Der Begriff Syllaba anceps stammt aus der Metrik. Die Syllaba anceps ist eine Silbe im Versmaß, deren Betonung in einem Vers unterschiedlich ausfallen kann. So kann das jeweilige Versmaß für die entsprechende Stelle entweder eine betonte oder unbetonte Silbe respektive in der quantitierenden Metrik eine Länge oder Kürze vorsehen (→ Hexameter).
Der Begriff lässt sich aus dem Lateinischen ableiten. Dabei können wir syllaba mit Silbe übersetzen, wobei anceps in etwa doppelköpfig, unentschieden oder auch zweischneidig bedeutet. Somit zeigt uns schon die Übersetzung, worum es grundsätzlich geht: nämlich um eine mehrdeutige Silbe [deren Betonung im Vers unterschiedlich ausfallen kann]. Schauen wir dafür beispielhaft auf den Aufbau eines Hexameters.
– υ υ – υ υ – υ υ – υ υ – υ υ – x
Das obige Beispiel zeigt den grundsätzlichen Aufbau des Hexameters. Dabei haben wir die betonten und unbetonten Silben farblich markiert und auch die Syllaba anceps farblich hervorgehoben. Wir erkennen, dass das Versmaß aus einem sechshebigen Daktylus gebildet wird, der katalektisch (unvollständig) ist.
Das bedeutet, dass die ersten fünf daktylischen Versfüße vollständig sind, weshalb sich auch die Abfolge betont, unbetont, unbetont fünfmalig wiederholt. Darauf folgen jedoch nur zwei Silben, die somit keinen vollständigen daktylischen Versfuß mehr bilden können (akatalektisch).
Die grüne Markierung, also das x, gibt beim Hexameter an, dass an dieser Stelle entweder eine betonte oder unbetonte Silbe stehen könnte. Würden wir eine betonte Silbe einsetzen, wäre der letzte Versfuß ein Spondeus, würden wir eine unbetonte Silbe einsetzen, wäre es ein katalektischer Daktylus. Da die letzte Silbe somit flexibel ist, wird sie Syllaba anceps, also mehrdeutige Silbe, genannt.
Das Wichtigste zur Syllaba anceps im Überblick
Syllaba anceps ist ein Begriff aus der Metrik und meint, dass eine bestimmte Silbe im jeweiligen Versmaß unterschiedlich betont werden kann. In einer quantitierenden Metrik, wie beispielsweise im Lateinischen oder Griechischen, kann an dieser Stelle also eine Kürze oder Länge stehen, in der akzentuierenden Metrik, wie sie das Deutsche hat, eine betonte oder unbetonte Silbe.
Im klassischen Hexameter kann dies beispielsweise die letzte Silbe des Versmaßes sein. Setzen wir für die Syllaba anceps eine betonte Silbe ein, wird der letzte Versfuß zum Spondeus, setzen wir eine unbetonte Silbe ein, wird er zum katalektischen Daktylus.
Hinweis: Wenn die Betonung im Vers wechselhaft ist, spricht man in der klassischen Metrik davon, dass die Quantität einer Silbe schwankend ist.